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Archiv-Artikel

„Ein bisschen Rausch“

Bayern München deklassiert den Stadtkonkurrenten 1860 spielerisch leicht mit 5:0 und sagt das politisch Gebotene

MÜNCHEN taz ■ Für einen kurzen Moment schien er zu wackeln, der große FC Bayern. Mehmet Scholl, 70 Kilo, hatte Simon Jentzsch, 96 Kilo, die Hand gereicht, um ihn aufzuhelfen vom Rasen. Ein paar Minuten waren da erst gespielt, ein Zeitpunkt, zu dem es noch Hoffnung gab. Dass nicht nur die rotweißen Ballett-Kicker mit der Hacke spielen können, das hatten die Sechziger bis dahin auch schon gezeigt. Dann die Sportsmann-Geste von Scholl: Zieht an Jentzschs Riesenpranken und dem knappen Zentner dahinter, droht nach vorn zu kippen und dem Keeper in die Arme zu fallen. Sind die Löwen endlich doch nicht mehr das Leichtgewicht neben dem großen roten Bruder? I wo, mit einem Mal hat Scholl den massigen Torwart hochgewuchtet, kurzer Klaps, merci und servus. Wenig später sangen die Fans: „Die Nummer eins der Stadt sind wir.“ Da stand es 5:0.

Das war dann die höchste Derby-Niederlage für die Löwen seit dem 1:6 im Mai 1980, als die Torschützen noch Breitner und Rummenigge hießen. Die sechste Derby-Niederlage in Folge, die 19. im 34.Bundesliga-Derby. Aber: fünf Tore in 22 Minuten – erklären konnte das keiner. Außer Franz, dem kaiserlichen Premiere-Berater: „Die Bayern haben halt ein paar Gänge zugelegt.“ Fußball kann so einfach sein! Hitzfeld hatte zur Erklärung auch ein paar Standards parat („Klasse setzt sich immer durch“), gab in kleinerer Runde aber zu: „Das könnt ich nach jedem Spiel sagen.“ Kollege Pacult, eh nicht als Tiefschürfer bekannt, sagte: „Nach ’nem 5:0 brauch ma ned fui redn.“ Entschuldigte sich aber doch noch bei den Fans: „Bis zur 60. Minute hatte ich nicht geglaubt, dass ein Sieger vom Platz geht. Aber dass man so die Ordnung verlieren kann, das ist irgendwie unglaublich. Es ist wieder alles in die Hose gegangen.“ Der Stadion-DJ spielte dazu den Auch-schon-egal-Song der Monty Pythons: „Always look on the bright side of life.“

Die 60. Minute: Mehmet Scholl schießt einen Freistoß so genau in den Winkel, dass Simon Jentzsch vor lauter Frust einen Karatekick gegen den Pfosten landet. Weitere Düpierungen: Lupfer Scholl (69.), Kopfball vom Kleinsten Lizarazu (72.), Schieber vom völlig freien Pizarro (78.), Abstauber von Scholl nach perfektem Deisler-Pass (80.) – Kommentar Jentzsch: „Wenn man fünf bekommt, ist es ein Scheißtag gewesen.“ Da hat er Recht. Schwer ist das, will man seine Kollegen nicht des mut- und tatenlosen Mitläufertums bezichtigen. Wie dunkle Schatten huschten die Löwen neben den nun gut gelaunten Bayern her, die sich „ein bisschen in einen Spielrausch“ (Hitzfeld) gespielt hatten. Ein angenehmes Stadium für die Handvoll neutraler Betrachter im merkwürdigerweise nicht ausverkauften Olympiastadion: Kommt die Offensivmaschinerie der Bayern ins Rollen, macht Zuschauen richtig Spaß. Tabellen- und Spielstand erlauben Hitzfeld zudem die richtigen Wechsel: mal den jungen Schweinsteiger eine Stunde lang für Zè Roberto von Beginn an spielen lassen, den sichtbar spielgeilen Deisler (Scholl: „Der ist unglaublich, ich habe selten einen so guten Fußballer gesehen.“) noch zehn Minuten ins Rennen zu schicken, dafür den erneut pomadigen Elber mit Auswechslung zu strafen.

Und über allem: Mehmet Scholl. Drei Tore in einem Spiel – das gab’s zuletzt vor zehn Jahren. „Gegen Saarbrücken war das. Das merkt man sich schon mal.“ Dabei war es ihm vor seinem schon 13. Derby gar nicht so wohl gewesen: der Magen. „Ich hab ständig rausgeschaut zum Trainer, ob heut vielleicht früher Feierabend ist.“ Er hatte abends schließlich noch was vor: „Echo“-Verleihung für seine Musikkumpels „Sportfreunde Stiller“ in Berlin – wenig Zeit für Interviews. Aber dass die schönsten Sätze auch an diesem Tag von ihm kommen, wundert nicht. Nach all den gängigen Spielanalysen („schwer in so ein Derby reinzukommen“) sagt er: „Aber wichtig ist, dass Frieden bleibt. Dass die Menschen vernünftig werden. Dass Deutschland die Kraft hat und Amerika die Stirn bietet.“ Keine Sonntagsrede, keine Bewerbung für das Wie-retten-wir-den-Kanzler-Team. Der meint das einfach so.

THOMAS BECKER